Peer Counseling und Psychotherapie (Matthias Rösch)

„Hm … hm … ja … hm“ *

 

Peer Counseling und Psychotherapie
(* Zitat nach Carl Rogers)

Die Beratung in den Zentren für selbstbestimmtes Leben ist neben der politischen Arbeit unverzichtbarer Teil der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen. Das Peer Counseling als Beratung von Behinderten für Behinderte wird als pädagogische Methode der Independent-Living-Bewegung bezeichnet. Auf der politischen Ebene ist die Durchsetzung und Schaffung einer Vielzahl von Möglichkeiten Voraussetzung für Chancengleichheit und Gleichberechtigung. Auf der individuellen Ebene hat das Peer Counseling den Sinn, das Treffen von Entscheidungen, die Auswahl aus den verschiedenen Möglichkeiten zu unterstützen und zu begleiten (soweit diese Möglichkeiten vorhanden sind; wenn sie nicht vorhanden sind, bietet das wiederum den Einstieg in die politische Arbeit). Dabei stehen im Peer Counseling nicht die Defizite aufgrund der Behinderung, sondern unsere Fähigkeiten im Vordergrund. Nicht ein isoliertes Problem muß Thema der Beratung sein, Bezug genommen werden kann auf die Person und die Lebenssituation als Gesamtheit. Ziel der Unterstützung im Peer Counseling ist, Ratsuchenden die Fähigkeit zu vermitteln, eigene Probleme und Schwierigkeiten selbst lösen zu können. In den USA wird das mit dem Begriff „Empo-werment“ bezeichnet und kann, nicht ganz so treffend, mit „Ermächtigung“ übersetzt werden.
Daß Peer Counseling nun etwas mit Psychotherapie zu tun haben kann, klingt zunächst einmal widersprüchlich. Haben der Hokuspokus auf der Couch oder abgehobene Psychoworkshops überhaupt etwas mit Selbstbestimmung zu tun und stehen sie nicht im Widerspruch zu den politischen Absichten der Behindertenbewegung (Stichwort: Individualisierung). Wo liegt der Bezug zwischen dem Abtrainieren unerwünschter Verhaltensweisen und dem emanzipatorischen Charakter der Behindertenbewegung? Nun sind Psychotherapiemethoden so vielfältig und unterschiedlich wie es Kopfschmerzmedikamente gibt, mit dem Unterschied, daß über die Wirkung der verschiedenen Therapiemethoden noch heftig geforscht und gestritten wird.
Die US-amerikanischen Wurzeln des Peer Counseling sind von einen starken „grass-roots“- Ansatz her geprägt. Stellt Euch vor, wir sind Mitten in den 60ern und zwei behinderte Studis an einer kalifornischen Universität treffen sich und jedeR gibt dem bzw. der anderen genau eine Stunde Zeit zum Reden, über die Erfahrungen beim Studium, die Schwierigkeiten mit der Assistenz, den alltäglichen Diskriminierungen und dem, wie er/sie sich dabei fühlt. Der oder die andere beschränkt sich darauf, lediglich zuzuhören. Nach einer Stunde wechseln die Rollen, wieder eine Stunde reden und zuhören. So oder ähnlich entstand Peer Counseling. Zum Teil haben sich die beiden das bei den gerade entstandenen Frauen- oder Schwulengruppen abgeschaut, ein Stück weit ist auch der Ansatz der Anonymen Alkoholiker und anderer Selbsthilfegruppen und deren Vorgehen bei den Meetings zu spüren.
Ein paar Jahre später, beide haben ihr Studium beendet, gründen sie ein Center for Independent Living (CIL). Hier können sie Informationen weitergeben, politische Arbeit leisten und in der Beratung ein Stück ihres Wissens aus dem Studium anwenden. An US-amerikanischen Hochschulen ist es nicht unüblich, praxisnah in Beratung (Counseling) ausgebildet zu werden. Grundlage ist dabei oft die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers aus der Kiste der humanistischen Psychotherapieformen. Die Ausbildung in der Beratungstechnik nach Rogers läßt sich vom Zeitaufwand her gut in die begrenzte Zeitdauer eines Studiums integrieren. Die humanistischen Therapieformen haben eine Nähe zu der Philosophie der Independent-Living-Bewegung. So geht die Theorie der humanistischen Therapieformen von einem grundsätzlich positiven Menschenbild aus und nimmt an, daß jedeR KlientIn selbst über das Potential zur Lösung eigener Schwierigkeiten verfügt. Aufgabe in der Therapie ist es, eine fördernde, angenehme und empathische Atmosphäre zu schaffen, in der die Ressourcen gestärkt werden und wie in einem Gewächshaus ertragreich wachsen können.
Was also lag näher, Gesprächführungstechniken nach Rogers wie aktives Zuhören, Paraphrasieren (Zusammenfassen), Spiegeln von Gefühlen etc. als Elemente in das Peer Counseling einzufügen. Daß für Peer Counselors die therapeutischen Grundhaltungen Akzeptanz, Echtheit und Empathie hilfreich sind, ist naheliegend.
Die Beratung in den Zentren hierzulande ist von diesen Einflüssen nicht unberührt. Zum einen gab es direkte Kontakte zur US-amerikanischen Independent-Living-Bewegung, sei es, daß MitarbeiterInnen aus den CILs nach Europa zu Seminaren und Workshops kamen, sei es, daß AktivistInnen aus unseren Reihen Praktika, Studienaufenthalte etc. in den USA absolvierten. Selbst dort, wo das amerikanische Peer Counseling vor Ort keine starken Spuren hinterlassen hat, sehe ich eine Nähe zu dem Paradigma humanistischer Psychotherapieformen und die daraus resultierende Anwendung entsprechender Methoden. Dies läßt sich wiederum aus der Ähnlichkeit der zugrunde liegenden Philosophie der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der nondirektiven, nicht autoritär, sondern emanzipativ ausgerichteten Gesprächspsychotherapie erklären. Ein Anzeichen für diese Überschneidung sehe ich darin, daß einige BeraterInnen aus den Zentren an Ausbildungen in Gesprächspsychotherapie teilnehmen. Auch in der gerade stattfindenden ersten bundesweiten Weiterbildung zum Peer Counselor von bifos wurden Bezüge zu den therapeutischen Grundhaltungen Akzeptanz, Echtheit und Empathie genommen.
Ist Peer Counseling damit einfach nur die Anwendung von Rogers Therapiemethoden durch behinderte BeraterInnen? Das grundlegend Andere ist meiner Meinung nach, daß wir unsere eigene persönliche Erfahrung als Behinderte in die Beratung mit einbeziehen. Dieser Anspruch steht im Gegensatz zu der in der Psychotherapie geforderten und als notwendig angesehenen professionellen Distanz. Dadurch entsteht im Peer Counseling ein Konflikt zwischen motivierender Nähe und notwendiger Distanz zum Peer als Counselee. Dieses Dilemma erzeugt Spannung, ist aber auch das kreative Moment im Peer Counseling und gibt uns damit mehr Möglichkeiten, als dies in der Beratung durch nichtbehinderte ExpertInnen der Fall ist. Die Beratung ist von Zentrum zu Zentrum dadurch unterschiedlich geprägt, daß verschiedene Personen mit ihrem individuellen Hintergrund an Erfahrung und Ausbildung das Beratungsangebot vor Ort prägen. Es gibt zwar viele HochschulabsolventInnen aus dem pädagogisch-psychologischen Bereich, die in den Zentren arbeiten, aber eben nicht nur aus diesem Bereich. Genauso wenig ist ein Hochschulstudium Voraussetzung für die Tätigkeit als Peer Counselor. Ebenso nehmen nicht alle BeraterInnen an Weiterbildungen in Gesprächspsychotherapie teil, auch analytische und systemisch-familientherapeutische Ansätze werden angewendet. Problematisch ist auch, daß die therapeutischen Grundhaltungen Akzeptanz, Echtheit und Empathie zu unspezifisch sind, sie treffen letztlich in gleicher Weise für den Waschmaschinenverkäufer bei Hertie zu.
Wichtig erscheint mir, eine Vielfalt zu erhalten und zu ermöglichen, aus der wir im Peer Counseling schöpfen können und mit der wir schöpferisch umgehen können. Selbst der Einsatz von vordergründig als autoritär und direktiv erscheinenden Methoden der Verhaltenstherapie können auf dem Weg eines emanzipatorischen Prozesses denkbar und sinnvoll sein. Ziel des Peer Counseling soll die Unterstützung zu einer selbstbestimmten Lebensführung sein. Als grundlegendes Prinzip liegt daher nahe, die Ratsuchenden dort abzuholen, wo sie gerade sind und nicht durch ideologisch begründete Erwartungen zu überfordern.
Die Diskussion zu den Grundlagen und der Weiterentwicklung des Peer Counseling sehe ich als eine der wichtigen Aufgaben des im letzten Jahr gegründeten Forums behinderter BeraterInnen der ISL an. (Anmerkung vom 26.10.99: Inzwischen hat sich daraus der Berufaverband Peer Counseling – BVP e.V. entwicklt).
Matthias Rösch, ZsL Mainz e.V., Rheinstr. 4F, 55116 Mainz
Veröffentlicht in: Die randschau – Zeitschrift für Behindertenpolitik, 2, 1995

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert